ANTHROPOLOGISCHE MEDIZIN
WURZELN UND BEZÜGE
Ärzte und andere Vordenker haben anthropologische Medizin ab den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelt, damals auch als Gegenperspektive zu einer sich immer weiter ausdifferenzierenden, überwiegend naturwissenschaftlich-technisch orientierten Medizin.
Viktor von Weizsäcker, ein Arzt und Philosoph, ist hier als Erster zu nennen – er ging so weit, über anthropologische Medizin hinaus eine medizinische Anthropologie zu skizzieren, also Bestimmungsgründe des Menschen im Allgemeinen aus der Beschreibung des kranken Menschen zu entwickeln. Weitere Vordenker, deren Werk für eine anthropologische Medizin wichtig ist, sind Helmut Plessner, Hans Jonas, Maurice Merleau-Ponty, Kurt Goldstein, Paul Christian und andere – ein einigendes Band ist der Bezug auf die Phänomenologie, die Lehre von der Erkenntnisgewinnung aus unmittelbarer Anschauung der Erscheinungen. Allerdings: anthropologische Medizin kann und will sich nicht primär auf Vordenker beziehen; sie ist als bewusst geschichtliche immer auch Gegenwartsmedizin. So gilt es, in einer anthropologischen Medizin auch moderne Entwicklungen der Bio-, Human-, Kognitions- und Neurowissenschaften zu rezipieren wie z.B. die „embodied, embedded, enactive and extended cognition (4E cognition)“, die v.a. die Interaktionen lebendiger Organismen als konstitutiv für Aktion, Kognition und damit Evolution ansieht, oder die computionalen Neurowissen-schaften, die das Gehirn als dynamische Vorhersagemaschine („predictive processing“) beschreiben – auf beides wird an anderer Stelle näher eingegangen.
Zusammenfassend versteht sich anthropologische Medizin als Teil der rationalen Medizin von heute, die sowohl an die Natur- als auch an die Geisteswissenschaften einschließlich der Kultur- und Entwicklungsgeschichte anknüpft und sich dabei bewusst zurückhaltend in Bezug auf esoterische und romantische Deutungen verhält.
Peter Henningsen
Lteratur und Links
Fischer P, Gadebusch Bondio M, Berberat P (Hrsgb.). Literatur und Medizin – interdisziplinäre Beiträge zu den ‚Medical Humanities‘. Jahrbuch Literatur und Medizin. Beihefte, Band 2. Universitätsverlag Winter, Heidelberg, 2016.
Gahl KPG. Anthropologische Medizin als klinische Wissenschaft. Ethik in der Medizin 2011, 23: 67–71. https://www.viktor-von-weizsaecker-gesellschaft.de/assets/pdf/Menschenbild_med_Anthropologie.pdf