„Wir sehen in der Natur nie etwas als Einzelheit,
sondern wir sehen alles in Verbindung mit etwas anderem,
das vor ihm, neben ihm, hinter ihm, unter ihm und über ihm sich befindet.“
Johann Wolfgang von Goethe, zu Eckermann, 1826
Wir Menschen sind daran gewöhnt, uns als einzelne (manchmal auch als vereinzelte) Wesen zu begreifen. Das ist gut so, denn anders als Bäume im Wald, Bienen im Bienenstock und selbst Schafe in einer Schafherde, sind wir verhältnismäßig autonom, also handlungsfähig und vor allem auch handlungswillig. Wir haben ein Selbst-Bewusstsein und eine eigene Identität, die aus unserer Lebensgeschichte erwächst, die wir bewusst formen und auf deren Einzigartigkeit wir stolz sind. Auch wenn es auch in unseren westlichen Gesellschaften Normen und Vorurteile gibt: Der hohe Wert des einzelnen Individuums erlaubt viele Verschiedenheiten, die in der Summe den Reichtum einer Gesellschaft ausmachen. Er schützt uns vor Gleichmacherei, vor Austauschbarkeit und vor Ausgrenzung: Everyone matters, wir sind alle Unikate.
Allerdings gehen dabei einige Aspekte verloren, vor allem der der Gemeinsamkeit, des Eingebunden- und des Aufgehobenseins, wie sie Menschen in kollektivistischen Gesellschaften kennen (freilich nur, solange sie die Normen erfüllen). Vor allem aber ignoriert die Annahme, dass die Welt eine Bühne voller unabhängig voneinander agierenden Individuen sei, eine ganze Reihe von Fakten:
- Lebewesen brauchen ein Milieu und Nährstoffe.
- Die meisten Lebewesen brauchen andere Lebewesen für Aufzucht, Schutz und Entwicklung.
- Der Mensch mit seiner langen Kindheit, seinem Stoffwechsel (mit vielen essenziellen Nährstoffen und Aminosäuren) und seinem sehr plastischen Gehirn ist dabei sogar ganz besonders von anderen abhängig.
- Sprache, Geschichten und (Vor-)Bilder, die ja gerade dem Menschen deutlich mehr Freiheitsgrade ermöglichen als die Rhythmen, Rangordnungen und Instinkte anderer Lebewesen, entstehen im und wiederum für den Austausch mit anderen sprechenden und bildenden Menschen.