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HANS JONAS

HANS JONAS

(1903 - 1993)

„Haltet daran fest, dass

wie man denkt, was man denkt, was man sagt und wie man in der wechselseitigen Kommunikation Ideen verbreitet, einen Unterschied ausmacht im Gang der Dinge“

Hans Jonas. Rede Ehrenpromotion an der Freien Universität Berlin. 1992

Hans Jonas wurde 1903 als mittlerer von drei Söhnen eines jüdischen Mönchengladbacher Textilfabrikanten geboren; sein Großvater mütterlicherseits war Oberrabiner in Krefeld. Er studierte in Freiburg, Berlin und Marburg Philosophie, Kunstgeschichte und Judaistik. Zu seinen akademischen Lehrern zählten u.a. Husserl, Bultmann und Heidegger, bei dem er über „Der Begriff der Gnosis“ promovierte. Eine lebenslange Freundschaft verband ihn mit Hannah Arendt. In Berlin trat er einer zionistischen Studentenverbindung bei, begann 1923 sogar kurzzeitig eine landwirtschaftliche Ausbildung, um nach Israel auszuwandern, emigrierte dann aber doch erst 1933, nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten, über London nach Jerusalem. Dort trat der junge Philosoph in die zionistische paramilitärische Untergrundorganisation Hagana ein, bei Ausbruch des zweiten Weltkriegs dann in die britische Armee, am Ende des Krieges in deren Jüdische Brigade. Nach dem Krieg diente von 1948 bis 1949 in der israelischen Armee. Erst nach Kriegsende erfuhr er von der Ermordung seiner Mutter im KZ Auschwitz. 1949 ging er als Fellow nach Kanada, 1955 wurde er Professor an der New School for Social Research in New York, wo er bis zu seinem Tod 1993 lebte. Das Denken des politischen, im wahrsten Wortsinne kämpferischen Philosophen Hans Jonas spannt einen weiten Bogen, von der jüdischen Überlieferung über die Gnosis des Altertums hin zu ethischen Fragen an den modernen Menschen und schließlich wieder zur Theodizee-Frage.

Für die anthropologische Medizin ist insbesondere Jonas‘ Aufsatzsammlung „Organismus und Freiheit. Ansätze einer philosophischen Biologie“ (1973) interessant, die später unter dem eingängigeren Titel „Das Prinzip Leben“ veröffentlicht wurde. Anschließend daran entwickelte Jonas in seinem Buch „Das Prinzip Verantwortung“ (1979) eine im eigentlichen Sinne ökologische Verantwortungsethik, deren praktische Auswirkungen für die Medizin er schließlich in „Technik, Medizin und Ethik“ (1985) darstellte.

Das Prinzip Leben



Jonas schreibt einleitend: „Die großen Widersprüche, die der Mensch in sich selbst entdeckt – Freiheit und Notwendigkeit, Autonomie und Abhängigkeit, Ich und Welt, Beziehung und Vereinzelung, Schöpfertum und Sterblichkeit – haben ihre keimhaften Vorbildungen schon in den primitivsten Formen des Lebens, deren jede die gefährliche Waage zwischen Sein und Nichtsein hält und immer schon einen inneren Horizont von Transzendenz in sich birgt.“ (PL S.9).

Für Jonas sind erste Vorläufer von Geistigem schon in den phylo- und ontogenetisch einfachsten Lebensformen sichtbar. So etwa in den Lebensvorgängen von Einzellern wie Pantoffeltierchen, die mit ihrer Umgebung in einer Art und Weise (Selbstbewegung, Nahrungsaufnahme, Fortpflanzung durch Teilung) interagieren, die gegenüber den rein anorganischen Reaktionen etwas völlig Neues darstellt. Andererseits seien auch die elaboriertesten geistigen Leistungen immer noch an das Organische (besonders ans Nervensystem) gebunden: „…dass das Organische schon in seinen niedersten Gebilden das Geistige vorbildet und dass der Geist noch in seiner höchsten Reichweite Teil des Organischen bleibt“ (PL S. 15).

Im Begriff der Freiheit liegt für Jonas der Schlüssel zum Verständnis des Organischen. „Im Begriff der Freiheit besitzen wir einen Leitbegriff für die Interpretation des Lebens.“ (PL S. 157). Bereits im (Zell-)Stoffwechsel findet er Freiheit angelegt, da dieser es der Zelle erlaube, sich von der unbelebten Natur abzugrenzen und ein eigenes, in ersten Ansätzen „freies“ Lebewesen zu sein, selbst-zentriert, individuell. Im Gegensatz zum Anorganischen mit seinen rein physikalisch-chemischen Strukturen und Reaktionen sei das Organische weniger eindeutig der Kausalität unterworfen, Form und Funktion würden sich vom stofflichen Substrat emanzipieren und es ständig neu organisieren. Jonas beschreibt, wie die Form des lebendigen Organismus unabhängig von den sie tragenden Substanzen wird. Die „eigene funktionale Identität [des Organismus] fällt nicht mit der substantialen Identität [des Materials)] zusammen“, so dass die Freiheit des Organischen eine „bedürftige“ sei (PL S. 150).

Mit wenigen Worten ist hier also eine ontologisch orientierte Philosophie des Organischen beschrieben, die das antithetische Denken vom Sein und Nichtsein, von Selbst und Welt, von Form und Stoff und von Freiheit und Notwendigkeit überwinden will: „Das reine Bewusstsein ist ebenso wenig lebendig wie die ihm gegenüberstehende Materie.“ (PL S. 42).

Biologie und Evolutionstheorie erbringen für Jonas den Nachweis einer grundsätzlichen Verwandtschaft alles Lebendigen, da komplexe Organismen aus einfacheren hervorgegangen seien. Im Rahmen der Ontogenese, also der Entwicklungsgeschichte der Lebewesen, komme es zu einer erheblichen Ausweitung der Freiheitsgrade. „Das Höchste konnte vom Niedrigsten nur durch alle Zwischenstufen hindurch erreicht werden, ob diese nun vorübergehend waren oder in eigenen Vertretern permanent bestehen blieben. (…) Wo anders als am Anfang des Lebens kann der Anfang der Innerlichkeit angesetzt werden?“ (PL S. 100). Diese Innerlichkeit leitet sich laut Jonas wesentlich von einem In-Kontakt-Treten-Können mit der Umwelt ab, beginnend mit einfachen Reiz-Reaktionsmustern von Einzellern, bis hin zu ausdifferenzierten Nervensystemen bei Säugetieren: „In der Affektion durch ein Fremdes fühlt das Affizierte sich selbst; (…). Mit dem ersten Dämmer subjektiven Reizes, dem rudimentärsten Erlebnis der Berührung, öffnet sich ein Spalt in der Verschlossenheit geteilten Seins und entriegelt eine Dimension, in der die Dinge neues, vervielfältigtes Sein im Modus des Objektes gewinnen: es ist die Dimension der darstellenden Innerlichkeit“ (PL S. 160). Die Tatsache, dass bei tierischen Organismen der Umgang mit der Umwelt eben nicht nur über simple Reiz-Reaktion erfolgt, sondern über - wenngleich zunächst noch nicht bewusste - Bewertungen und Entscheidungen, z.B. über Flucht oder Angriff, über Nahrungssuche oder Paarung, beschreibt Jonas mit dem Begriff der Mittelbarkeit: „Die Mittelbarkeit tierischer Existenz liegt an der Wurzel von Motilität, Wahrnehmung und Gefühl. Sie erzeugt das vereinzelte Individuum, das sich der Welt entgegenstellt. Diese Welt ist zugleich einladend und bedrohend. (…) In dieser Welt ist das Tier kein stabil eingefügter Teil. (…) Diese prekäre und ausgesetzte Art zu sein verpflichtet zu Wachheit und Bemühung, während pflanzliches Leben schlummern kann.“ (PL S. 191)

Beim Menschen steigern sich die Freiheitsgrade nochmals deutlich. Jonas beschreibt, wie der Mensch sich ein zunehmend komplexeres Bild von seiner Umwelt macht, das schließlich auch ein Bild von sich selbst einschließt. „Der Mensch in vollem Sinne taucht auf, wenn er, der den Stier und selbst seine Jäger malte, sich dazu wendet, das nicht malbare Bild seines eigenen Benehmens und Seelenbefindens in den Blick zu bekommen. Über die Entfernung dieses sich wundernden, suchenden, vergleichenden Blicks konstituiert sich das neue Wesen «Ich»“ (PL S. 307). Menschen stellen sich selbst in Frage, entwerfen Bilder von sich selbst, streben diesen nach und scheitern daran. Wir sind zur Freundschaft und Liebe genauso fähig wie zur Einsamkeit und Verzweiflung. Wir können an uns selbst leiden, aber auch für andere heilsam sein. Und wir können unsere Freiheit nutzen oder ausschlagen, unsere Verantwortung ausüben oder ignorieren.

Die Erkenntnisfähigkeit des Menschen, die zunächst die ihn umgebende Natur, dann aber auch ihn selbst erfasst, lässt den Menschen sich selbst zur Frage werden. Die Suche nach der Antwort auf diese existentiellen  Fragen (Wer bin ich? Was soll ich tun?) hört nicht auf, solange wir am Leben sind – aber gerade das unterscheidet den Menschen von allen anderen Lebewesen. Diese Erkenntnisfähigkeit führt aber auch unmittelbar zu einer Verantwortung des Menschen für sich selbst und für die von ihm verstandene und zunehmend mit Hilfe der Technik veränderte Welt.

„Das Phänomen des Lebens selber verneint die Grenzen,

die gewohnheitsmäßig unsere Disziplinen und Arbeitsfelder trennen.“

Hans Jonas. Das Prinzip Leben. 1973



„Der Mensch ist das einzige uns bekannte Wesen, das Verantwortung haben kann.

Indem er sie haben kann,

hat er sie.“

Hans Jonas. Prinzip Verantwortung. Zur Grundlegung einer Zukunftsethik. Vortrag 1986

Das Prinzip Verantwortung

Jonas‘ nennt sein wohl bekanntestes Buch er einen „Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation“. Durch ihre Erkenntnis-, Reflektions- und Entscheidungsfähigkeit tragen Menschen Verantwortung, ob sie wollen oder nicht: „Der Mensch ist das einzige uns bekannte Wesen, das Verantwortung haben kann. Indem er sie haben kann, hat er sie.“

Traditionell sei Ethik überwiegend als Handlungsanweisung für im unmittelbaren Nahbereich miteinander interagierende Menschen verstanden worden, gleichsam als Nächstenliebe. Die moderne Technik aber verbinde die Menschen über Raum und Zeit und verändere die ganze Welt. Daher müsse die Verantwortung von uns gegenwärtig lebenden Menschen, z.B. für Umweltschäden, auch kommende Generationen einschließen, die von den Folgen unseres Handelns mit hoher Wahrscheinlichkeit noch betroffen sein würden, gleichsam als Fernstenliebe. Entsprechend formuliert Jonas einen „ökologischen“ Imperativ: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“ (PV S. 36).

Dabei weist Jonas explizit auf die Problematik hat, dass die langfristigen Folgen moderner technologischer Eingriffe kaum zuverlässig abschätzbar sind. Im Sinne einer „Heuristik der Furcht“ fordert, die Schadenshöhe mit der Schadenswahrscheinlichkeit zu verrechnen und dabei pessimistischere Prognosen den optimistischeren vorzuziehen. So könnten der potenzielle Schaden sowie die Gefahr einer Abwiegelung möglichst verringert werden.

Der ökologische Imperativ geht natürlich über konkrete, alltägliche Fragestellungen einer anthropologischen Medizin hinaus. Er gibt aber eine Richtung vor, wie eine menschengemäße Medizin innerhalb einer technologisch hochentwickelten Industriegesellschaft verantwortlich ausgeführt werden könnte: „Verantwortung sagt, dass uns etwas anvertraut ist.“

Technik, Medizin und Ethik



Dieses Buch trägt den Untertitel „Praxis des Prinzips Verantwortung“. Beginnend mit der Rolle der Wissenschaft, stellt Jonas die Frage, ob diese überhaupt „wertfrei“ möglich ist, ob die Unterscheidung zwischen Grundlagenforschung („wertfrei“) und angewandter Forschung (evtl. ethisch problematisch) etwa im Bereich der Gentechnik überhaupt noch aufrecht erhalten werden kann, da hier Forschung immer sogleich Anwendung (zumindest für Laborzwecke) bedeutet. Jonas spricht sich ausdrücklich für die Freiheit der Forschung aus, betont aber gleichzeitig die Verantwortung der Wissenschaftler, da diese zuallererst die mögliche Folgen ihrer Arbeit abschätzen könnten, zudem fordert er entsprechende gesellschaftliche und politische Organe: „Verantwortung reicht so ins Herz der Forschung hinein. Die für die technologischen Früchte muss sie der Sache nach mit Instanzen jenseits der Forschung teilen, (…). Die Verantwortung für wissenschaftsinternes Verfahren aber ruht in erster Linie auf den Schultern der Forscher (…)“ (TME S.107).

Weiter beschreibt er die Tätigkeit des Arztes als die einer „Kunstfertigkeit“. Diese wende Methoden an, die sich auf die moderne wissenschaftliche Medizin stützen, weise aber gegen-über anderen Künsten zwei Besonderheiten auf: zum einen gehe es bei der Heilkunst um die „Wiederherstellung eines Zustandes“, der verloren gegangen sei, nämlich die Gesundheit des Erkrankten. Zudem fallen beim Patienten Material (Körper des Patienten) und Zweck (möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit) zusammen, was bei allen anderen Künsten nicht der Fall ist und daher von Seiten des Arztes besondere Vorsicht und Sorge fordert.

Über das Verhältnis von Arzt und Patient schreibt Jonas: „Der Patient erwartet und muss vertrauen können, dass die Behandlung ihn allein im Auge hat. (…) Um der Person ihr Leben zu ermöglichen, soll dem Körper geholfen werden. Der Körper ist das Objektive, aber es geht um das Subjekt“ (TME S. 148).  In modernen Gesellschaften herrscht allerdings kein einfaches, von außen ungestörtes Verhältnis von Arzt und Patient. Der Arzt sei immer auch „Beauftragter der Gesellschaft und Diener der öffentlichen Gesundheit“ (TME S. 154), weshalb Bereich wie Schutzimpfungen, öffentliche Gesundheit, aber auch Schwangerschaftsverhütung und das komplexe Thema der Schwangerschaftsabbrüche besondere Abwägungen der Verantwortlich-keiten notwendig machen, jedoch ohne dass Jonas hier eindeutig Stellung bezieht.

Abschließend enthält das Buch Jonas Beitrag zur Hirntoddebatte, nachdem 1968 der Report des Kommitees der Harvard Medical School zur Definition des Hirntods erschienen war. Jonas akzeptiert hier, dass der Hirntote zwar offensichtlich ein sterbender Mensch sei, der ohne maschinelle Unterstützung aufgrund der ausgefallenden Spontanatmung innerhalb von Minuten auch alle anderen Organfunktionen verlieren würde. Allerdings sei der Sterbende eben auch (noch) kein Leichnam, da er noch lebendige Organe enthalten würde, die ja entnommen und einem Empfänger transplantiert werden sollen. Er betont hier, dass das Leben – und das Sterben – jeweils den ganzen Organismus erfassen, und dass hier ein neuartiger Dualismus auftritt, diesmal zwischen dem Gehirn als Sitz aller Eigenschaften, die einen Menschen ausmachen, und dem Rest des Körpers, der sozusagen nur biologisch ausführendes Organ ist. In einem verfassten Nachwort bedauert Jonas, dass seine Einwände offensichtlich keinerlei Wirkung auf die sich etablierende Transplantationsmedizin gehabt hätten und die medizinisch-technischen (und auch wirtschaftlichen) Interessen, die dabei wirksam gewesen seien, sich weltweit durchgesetzt hätten.

Hans Jonas kann uns Ärzten helfen, unsere Position zwischen Patienten und Gesellschaft, zwischen einzelnen Kranken und objektiver Wissenschaft besser zu verstehen, um auch in menschlich und ethisch schwierigen Situationen verantwortbare Entscheidungen treffen zu können.

Matthias Wiehle





Literatur und Links



http://hans-jonas-edition.de/

https://hansjonas.de/

https://www.hans-jonas-zentrum.de/

Jonas H. Das Prinzip Leben. Suhrkamp, Berlin 2011

Jonas H. Das Prinzip Verantwortung. Suhrkamp, Frankfurt 1984

Jonas H. Technik, Medizin und Ethik. Suhrkamp, Frankfurt 1987

Verwer K. Freiheit und Verantwortung bei Hans Jonas. Universität Berlin, 2011 http://creativechoice.org/doc/HansJonas.pdf



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