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MAURICE MERLEAU-PONTY

MAURICE MERLEAU-PONTY

(1908 -1961)

Die Wissenschaft geht mit den Dingen um, ohne sich auf sie einzulassen.
Sie macht sich eigene Modelle von ihnen,
und dringt dabei nur hin und wieder zur wirklichen Welt durch.“
Maurice Merleau-Ponty. Das Auge und der Geist. 1961


Maurice Merleau-Ponty war der Wegbereiter der modernen Phänomenologie in Frankreich. Er wurde früh Professor für Philosophie, zeitweise auch für Kinderpsychologie und Pädagogik, und erhielt schon mit 44 Jahren den renommierten Philosophie-Lehrstuhl des Collège de France.

Merleau-Ponty – nennen wir ihn hier kurz und liebevoll MMP – war viele Jahre „mittendrin“ in der linken französischen Existenzialistenszene, beschäftigte sich mit Politik, Kunst, auch mit Psychoanalyse und Gestaltpsychologie. Er war eng verbunden mit Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, später aber mit ihnen zerstritten, weil er sich vom Sowjetkommunismus distanzierte. Als er starb, war er erst 53 Jahre alt.

Auch MMP beschäftigte sich mit dem Menschsein aus der Perspektive seines Verkörpert-Seins heraus. Wie Plessner sah auch er den Leib gleichzeitig als Medium und Grenze unseres Verhältnisses zu uns selbst und zu unserer Umwelt. Dabei betonte MMP aber noch stärker Verbindung und Kontinuität von Geistigem und Leiblichem und wies vor allem dem Körper eine noch fundamentalere Rolle als Ursprungsort von Bewusstsein und Wissen zu. Das hat ihm den Beinamen „Schutzheiliger des Körpers in der westlichen Philosophie“ verschafft. Einen solchen Schutzheiligen kann der Körper angesichts der Geist-dominierten, oft dualistischen Philosophie sicherlich gut gebrauchen, und angesichts der Gehirn-dominierten modernen Neurowissenschaften auch. Zu konkreten medizinischen Fragen hat sich MMP kaum geäußert, aber seine Vorstellungen von Wahrnehmung, Verhalten, Körpergedächtnis und Intersubjektivität sind hilfreich für einen anthropologischen Blick auf die Medizin.

„Der eigene Leib ist in der Welt wie das Herz im Organismus.“

Maurice Merleau-Ponty. Die Phänomenologie der Wahrnehmung. 1945

Wahrnehmung und Verhalten

Im Kontrast zur Abstraktheit und Detailverliebtheit wissenschaftlichen Denkens, im Kontrast zum „reinen“ Experiment, zur Analyse und zur Berechnung ist für MMP Wahrnehmung tatsächlich Wahr-Nehmung. Er sieht darin den eigentlichen Zugang zur Welt - und nicht etwa etwas Zweitrangiges, weil durch Unmittelbarkeit und Subjektivität Verschleiertes oder Verfälschtes. Er betont den unablässigen Bezug der Sinnesorgane zur Welt, der Realität und Bedeutung zugleich generiert. Denn nur über unseren Körper können wir uns auf die Welt zubewegen und uns ihr öffnen; MMP nennt dies “transzendieren”. Man könnte also sagen, wir kommen über die Sinnlichkeit zum Sinn… . Dabei kann laut MMP ein wahrnehmendes Subjekt nicht zugleich das Objekt seiner Wahrnehmung sein, weil wir immer an die Perspektive des eigenen Körpers gebunden sind (das stimmt natürlich: die eigene Stimme hören, sich selbst berühren – alles schwierig). Hier war MMP allerdings etwas streng: Man kann seinen Wahrnehmungsfokus ja durchaus zwischen dem Empfinden einer Berührung einerseits und eines Berührens andererseits hin- und her-wechseln, man kann sicherlich den eigenen Körper beobachten, und man kann ihn (in Grenzen) auch selbst erforschen, wie Kinder das oft tun. Interessanterweise traut MMP dabei dem unbewussten, impliziten und wie er meinte auch allen Menschen gemeinsamen Körper-wissen mehr als bewussten Empfindungen und deren Bewertungen, wie Hunger, Lust und Schmerz. In letzteren liegt für ihn schon zu viel Reflexivität und Repräsentationalität, im Benennen und Erklären eine hohe Missverständnis- und Fehldeutungswahrscheinlichkeit. In der Tat könnte etwa eine zu explizite Körperwahrnehmung mit den damit verbundenen Interpretationen anstatt intuitiven Handelns zur Entstehung funktioneller und somatoformer Störungen („bodily distress“) beitragen. Vielleicht ist es das, was MMP mit dem oben zitierten „Aufgehen [im] Empfinden des Leibes und in der Einsamkeit [von] Empfindungen“ meint?

Auch im Verhalten schreibt MMP dem Körper eine eigene Intentionalität und damit eine eigene Subjektivität zu: Konkretes Handeln entsteht ja weder aus rein geistigen Erwägungen (Mensch≠Gehirn) noch aus bloßen Reflexen (Mensch≠Körpermaschine), sondern situativ-verleiblicht - und ist dennoch oder gerade deshalb meist sinnvoll. Weil der Körper die entschei-dende Quelle allen Wahrnehmens und Verhaltens ist (wo sollen diese sonst auch herkommen?), sieht MMP in ihm auch den Kern unserer Ausdrucksfähigkeit, und damit die Quelle von Sprache und Bedeutung: Dem Sprechen und Denken schreibt er nämlich dieselbe spontane Intentionalität zu wie dem Körper. „Ich greife zu einem Wort, wie meine Hand zu einer plötzlich schmerzenden Stelle meines Körpers fährt. […] Bedeutung ruft Sprache hervor.“ Er merkt auch an, ein Philosoph habe (lediglich) die Fähigkeit, dass er „sprachlich ausdrückt, was jedermann weiß.“

Körperschema und Körpergedächtnis



Für MMP verfügt der Körper also über eigenes, implizites Wissen („schweigendes Bewusstsein“, „reines Selbstgefühl“). Zusätzlich spricht er vom Körper als einem “intentionalen Bogen”, der Träger seiner früheren Erfahrungen ist und als aktueller, intentionaler Leib zugleich Erfahrungen in der Zukunft ermöglicht. Wenn er gewohnte Bewegungsabläufe, erlernte Fertigkeiten, Beziehungsmuster, kulturelle Konventionen und überhaupt alle Erfahrungen (einschließlich traumatischer Erlebnisse und Schmerzen) im Körper verortet, begegnet uns bereits die Idee eines Körpergedächtnisses. MMP geht davon aus, dass die körperliche „Sedimentierung“ von (Leib-)Erfahrungen unser Verhalten im Hier und Jetzt der Welt auf eine intelligente, aber gleichsam mühelose, man könnte fast sagen schlafwandlerische Art und Weise prägt - ohne spezielle Aufmerksamkeit oder Planung, ohne Faktenwissen, ohne Repräsentationen im Gehirn: so passen wir unsere Schritte auf der Grundlage unserer Geherfahrungen und aktueller Sinneseindrücke dem Untergrund gleichsam automatisch an, aber wir stellen sie uns nicht in Gedanken vor oder berechnen sie, nicht einmal, wenn wir, etwa durch einen Gehstock, diese Sinneseindrücke nur indirekt bekommen. Im Gegenteil, wir „fühlen“ den Untergrund mit dem Stock, integrieren in mühelos ihn unser Körperschema wie einen verlängerten Arm.


Räumlichkeit, Ständigkeit, Zwischenleiblichkeit

„Selbst wenn ich im Empfinden meines Leibes 
und in der Einsamkeit meiner Empfindungen aufgehe,
gelingt es mir nicht, jeden Bezug meines Lebens zur Welt zu unterdrücken.“
Maurice Merleau-Ponty. Die Phänomenologie der Wahrnehmung.1945



Laut MMP ermöglicht uns unser Körper „Räumlichkeit“ und „Ständigkeit“ im Raum und in der Zeit. Dabei beziehen sich unsere Sinnesorgane und unsere Körperteile innerhalb des Gesamtsystems Organismus je nach aktueller Situation flexibel aufeinander, wie ein Orchester. Er spricht hier von einem „solidarischen Miteinander“: „Sie sind nicht nebeneinander ausgebreitet, vielmehr ineinander eingeschlossen” (vielleicht besser: zusammengeschlossen). Ihr jeweiliges, immer wieder neues Zusammenspiel geschehe dabei – wie die Wahrnehmung – nicht durch analytische Berechnung, sondern durch implizites “absolutes Wissen”.
Menschliche Interaktionen erklärt MMP im Grunde genauso. Er beschreibt Intersubjektivität mit dem schönen Begriff „Zwischenleiblichkeit“ (intercorporéité). Demnach manifestieren sich (zwischen-)menschliche Empfindungen unmittelbar im körperlichen Ausdruck – auch sie ohne Umweg über oder eine Generierung durch das Bewusstsein: Zorn beispielsweise beschreibt er nicht als psychischen Zustand, sondern als Verkörperung, die sowohl für den Zornigen selbst als auch für sein Gegenüber unmittelbar sichtbar und spürbar wird, etwa durch ein hochrotes Gesicht oder eine geballte Faust. In einer solchen Situation begegnen sich eben nicht zwei Geister oder zwei Gehirne, auch nicht zwei Dinge, sondern zwei verkörperte Wesen. Auch hier geschehen weniger bewusste Analyse, vorsätzliche Aktion oder Reaktion des Einen oder des anderen, sondern vielmehr eine wechselseitige, simultane Synchronisation. Um bei musikalischen Vergleichen zu bleiben: wie im Tanz (übrigens benutzte Viktor von Weizsäcker in einer Vorlesung einmal das Bild des Tanzes als Gegenbild des Schwindels). Die Wichtigkeit unmittelbarer körperlicher Begegnungen von Menschen spiegelt sich z.B. sich im Kontaktbedürfnis und Imitationsverhalten von Neugeborenen, in der Beschreibung von Spiegelneuronen, in Erkenntnissen aus Deprivationsexperimenten wider. Erst das Körper-Haben macht uns zu sozialen Wesen.
Merleau-Ponty und die anthropologische Medizin

Neben aller Klarsicht spricht aus all dem eine Sehnsucht nach Ursprünglichem, Unverfälschtem, gleichsam Magischem. Man könnte sagen, der Intellektuelle MMP formuliert (etwas paradox, weil er diesem Zugang ja skeptisch gegenübersteht) Erklärungen für das erklärtermaßen Unerklärbare. Seine Würdigung (um nicht zu sagen Verabsolutierung) des Sinnlich-Leiblichen ist umso bewegender, als er als introvertiertes Kind, später als anständiger, fleißiger, ausgeglichener Erwachsener und sein Leben als eher langweilig geschildert wurde. Ein Lektor soll vor einigen Jahren die Veröffentlichung einer MMP-Biographie für wenig aussichtsreich gehalten haben: „Zu viel gedacht und zu wenig erlebt.“

MMP überschätzt dabei vielleicht die positiven Körperkräfte und -gewohnheiten und unterschätzt stattdessen das Potenzial von Reflexion und Lernen. Schließlich gibt es ja auch schädliche Gewohnheiten und Krankheiten, Körpererinnerungen können uns ganz schön in die Irre führen, Wahrnehmung, Verhalten und Intersubjektivität profitieren durchaus manchmal vom Nachdenken über sich selbst. Der amerikanische Körperphilosoph Richard Shusterman plädierte daher statt eines absoluten, schweigenden Bewusstseins für eine „gelebte körperliche Reflexion“, wie sie Grundlage vieler meditativer und körpertherapeutischer Verfahren ist.

MMPs Konzepte von Wahrnehmung und Verhalten, von Körperschema und -gedächtnis und vor allem von der Zwischenleiblichkeit trennen uns nicht von anderen Lebewesen; viele teilen wir mit ihnen (siehe auch die Rubriken „Lebendig sein“, „Verkörpert sein“ und „Geschichte sein“). Weil wir Menschen uns aber unserer Körperlichkeit und damit unseres mittelbaren Bezugs zu uns selbst und zur Welt bewusst sind, können wir uns intuitiv oder reflexiv für Perspektivenwechsel bzw. Verhaltensänderungen entscheiden und uns in andere hineinversetzen.

Und zuletzt lohnt sich vielleicht noch ein Blick auf eine methodische Entscheidung, die sowohl Merleau-Ponty als auch Plessner getroffen haben, und die uns in der Medizin enorm weiter hilft. Wie das Phänomenologen nun mal so machen, lassen sie enorm viel Raum für das „Zwischen“, für Schwebe- und Übergangszustände, für Perspektivenwechsel und Pluralität, für „sowohl als auch“ statt „entweder oder“. MMP nennt dies „Doppeldeutigkeit“ (ambiguité).

Wir verdanken Maurice Merleau-Ponty spannende Gedanken und damit wichtige Grundlagen für eine anthropologische Medizin. Mit ihm verlassen wir (wie Rattner und Danzer das ausdrückten) gerne den sicheren Hafen der Eindeutigkeit, um auf dem rauen „Meer der Ambiguität“ reiche Beute zu machen.

Constanze Hausteiner-Wiehle





Literatur und Links



Danzer G. Merleau-Ponty – ein Philosoph auf der Suche nach Sinn. Kulturverlag Kadmos, Northwestern University 2003
Fuchs T. The Brain – A Mediating Organ. J Conscious Stud 2011; 18 (7-8):196-221
Goddemeier C. Maurice Merlau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Dtsch. Ärzteblatt 2008 7(4):164-165. https://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=59737
Merleau-Ponty M. Das Auge und der Geist. Philosophische Essays. Meiner, Hamburg 2003
Merleau-Ponty M. Das Sichtbare und das Unsichtbare. Fink, München 1994
Merleau-Ponty M. Phänomenologie der Wahrnehmung. de Gruyter, Berlin 1966/1974
Merleau-Ponty M. Vorlesungen I. Schrift für die Kandidatur am Collège de France. Lob der Philosophie. Vorlesungszusammenfassungen (Collège de France 1952–1960). Die Humanwissenschaften und die Phänomenologie. de Gruyter, Berlin/New York 1973
Rattner J, Danzer G. Medizinische Anthropologie. Frankfurt, Fischer 1997
Shusterman R. Der schweigende, hinkende Körper der Philosophie. DZPhil Berlin 2003; 51(5): 703-722. https://www.fau.edu/artsandletters/humanitieschair/pdf/der-schweigende-hinkende-korper-der-philosophie.pdf
Stanford Encyclopedia of Philosophy. Maurice Merleau-Ponty. 2016. https://plato.stanford.edu/entries/merleau-ponty/#LifeWork
The international Merleau-Ponty-Circle. https://www.merleauponty.org/
Wehrle M. Medium und Grenze: Der Leib als Kategorie der Intersubjektivität. Phänomenologie und Anthropologie im Dialog. https://core.ac.uk/download/pdf/34577489.pdf





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